Major Forester stand reglos, seine Augen fest auf die Schatten am Rande des Raumes gerichtet. Ein kühler Hauch schlich durch die unterirdische Kammer, und das Gefühl, dass er nicht allein war, wurde immer stärker. Die alte Abtei von Montferrat, die er für verlassen gehalten hatte, war offenbar nicht so leer, wie er gedacht hatte. Eine unsichtbare Präsenz lauerte hier, und die Luft war von einer unsichtbaren Spannung durchdrungen.
„Wer ist da?“ fragte er erneut, seine Stimme hallte leise durch die weiten Hallen der Kammer.
Wieder blieb es still. Doch Forester spürte, dass sich etwas in der Dunkelheit bewegte – fast unmerklich, als ob es sich darauf vorbereitete, zuzuschlagen. Er griff nach der kleinen Taschenlampe in seiner Jackentasche und richtete den Strahl in die Richtung, aus der er die Bewegung vermutete.
Der Lichtkegel erfasste eine Gestalt, die sich kaum vom Schatten abhob – eine verhüllte Figur, die sich in den Schatten der Säulen versteckte. Forester konnte nicht viel erkennen, doch die Person schien tief in eine Kapuze gehüllt zu sein, die ihr Gesicht verbarg. Der plötzliche Anblick ließ ihn innehalten. Er hatte nicht erwartet, auf jemanden zu treffen, doch nun war klar, dass diese Kammer seit langer Zeit bewacht wurde.
„Wer sind Sie?“ fragte Forester und machte einen vorsichtigen Schritt auf die Gestalt zu. „Und was tun Sie hier?“
Die verhüllte Person regte sich, als ob sie Foresters Frage erwäge, dann trat sie langsam ins Licht. Ein alter Mann, sein Gesicht von Falten durchzogen und mit strähnigem weißem Haar umrahmt, blickte Forester aus tiefen, dunklen Augen an. Er trug eine einfache Robe, die an die Mönche erinnerte, die einst in dieser Abtei gelebt hatten.
„Ich könnte Sie dasselbe fragen“, sagte der Mann mit ruhiger, tiefer Stimme. „Was führt Sie an diesen Ort, Fremder?“
Forester hielt den Blick des Mannes stand und überlegte einen Moment, ob er die Wahrheit sagen sollte. Doch er wusste, dass er keine Zeit für Täuschungen hatte. „Ich bin hier, um Antworten zu finden“, sagte er schließlich. „Ich suche nach der Verbindung zwischen dieser Abtei und dem Château Noir. Eine Frau namens Angèle de Trebault war hier – und ich muss wissen, was sie entdeckt hat.“
Die Augen des alten Mannes verengten sich, als er den Namen hörte. Er trat einen Schritt näher und musterte Forester mit einem forschenden Blick. „Angèle de Trebault“, wiederholte er leise. „Ja, sie war hier. Aber was auch immer sie entdeckt hat, war nicht für die Augen der Lebenden bestimmt.“
Forester spürte, wie sich seine Anspannung verstärkte. „Ich habe den Fluch, der auf ihrer Familie lastete, gebrochen“, sagte er ruhig. „Aber sie hat mir Hinweise hinterlassen – Hinweise, die mich hierher geführt haben. Sie glaubte, dass die Antworten in dieser Abtei liegen. Was hat sie hier gefunden?“
Der alte Mann schwieg für einen Moment, dann ließ er einen langen, tiefen Seufzer hören. „Es gibt viele Geheimnisse in Montferrat, Fremder. Doch nicht alle sollen enthüllt werden. Manche Antworten sind gefährlicher, als du dir vorstellen kannst.“
Forester trat näher an den Mann heran, seine Stimme drängender. „Ich habe gesehen, was Dunkelheit tun kann. Ich weiß, dass es Kräfte gibt, die wir nicht verstehen. Aber ich muss wissen, was sie hier entdeckt hat. Es gibt noch mehr – mehr, als nur den Fluch der Trebaults. Und ich werde nicht aufhören, bis ich die Wahrheit kenne.“
Der alte Mann schien für einen Moment in sich zu gehen, dann nickte er langsam. „Die Wahrheit“, murmelte er. „Ja, die Wahrheit hat Angèle gesucht. Doch es ist eine gefährliche Suche. Folgen Sie mir.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sich der Mann um und ging mit langsamen, bedächtigen Schritten auf die hintere Wand der Kammer zu. Forester folgte ihm, seine Gedanken rasten. Wer war dieser Mann, und warum wusste er so viel über Angèle? Was hatte er mit der Abtei zu tun?
Sie erreichten eine kleine, unscheinbare Tür, die sich in die Felswand schmiegte. Der alte Mann griff nach einem verborgenen Mechanismus in der Wand und mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür, die in einen schmalen, dunklen Gang führte. Die Luft war kühler hier, und der Geruch von feuchtem Stein und alter Erde war intensiver.
„Dies ist der Ort, den Angèle gesucht hat“, sagte der alte Mann, während sie durch den Gang schritten. „Es gibt hier unten etwas, das älter ist als die Abtei selbst. Ein Geheimnis, das lange Zeit verborgen gehalten wurde – bis jemand kam, der es zu entziffern versuchte.“
Forester hielt die Taschenlampe hoch und beleuchtete den Gang, der immer tiefer in den Berg führte. Die Wände waren grob behauen, und hier und da konnte er seltsame Markierungen erkennen – Symbole, die ihm vertraut vorkamen. Sie ähnelten den Symbolen, die er im Château Noir gesehen hatte.
„Was ist das für ein Ort?“ fragte Forester.
„Ein Ort der Schatten“, antwortete der alte Mann leise. „Hier liegt das Herz der Dunkelheit, die über diese Berge und das Château Noir gekommen ist. Diese Symbole – sie sind der Schlüssel. Sie haben Macht. Doch diese Macht ist keine, die die Menschen leichtfertig beschwören sollten.“
Schließlich öffnete sich der Gang zu einer weiteren unterirdischen Kammer. Diese war kleiner als die erste, aber die Luft schien hier fast zu vibrieren. In der Mitte des Raumes stand ein steinerner Sockel, auf dem ein altes, in Leder gebundenes Buch lag. Um den Sockel herum waren dieselben Symbole in den Boden eingraviert, wie Forester sie zuvor gesehen hatte.
„Das Buch“, sagte der alte Mann und deutete auf das Artefakt in der Mitte des Raumes. „Es enthält das Wissen derer, die versuchten, die Dunkelheit zu beherrschen. Angèle hat es gefunden, und sie wusste, dass es zu mächtig war. Sie versuchte, es zu verstehen – aber es gibt Dinge, die nicht verstanden werden sollen.“
Forester trat vorsichtig näher, sein Blick war auf das Buch gerichtet. „Was steht darin?“
Der alte Mann zögerte, als ob er nicht sicher war, ob er die Wahrheit preisgeben sollte. „Es ist ein altes Werk – älter als die Abtei selbst. Es stammt aus einer Zeit, als die Menschen versuchten, mit Mächten zu verhandeln, die sie nicht kontrollieren konnten. Diejenigen, die dieses Wissen suchten, bezahlten oft den höchsten Preis.“
Forester kniete sich hin und berührte vorsichtig den Ledereinband des Buches. Es fühlte sich kühl und seltsam lebendig an, als ob die Seiten selbst noch die Kraft der Geheimnisse in sich trugen. Er öffnete das Buch und blätterte durch die ersten Seiten, auf denen fremdartige Symbole und Texte in alter Sprache niedergeschrieben waren.
„Dies ist das Herz der Dunkelheit, die das Château und diese Berge befallen hat“, sagte der alte Mann. „Es hat Lucien de Trebault verführt – und viele andere vor ihm. Sie wollten Macht, und sie dachten, sie könnten sie durch diese alten Rituale erlangen. Doch sie haben nur die Schatten freigesetzt.“
Forester blätterte weiter, seine Augen verfolgten die seltsamen Zeichen. Plötzlich hielt er inne, als er auf eine Passage stieß, die ihn stocken ließ. Es war eine Beschreibung – ein Ritual, das seltsam vertraut klang. Es war fast identisch mit dem, was er im Château Noir erlebt hatte. Doch dieses Ritual versprach mehr als nur Macht – es versprach, die Verbindung zu den Schatten zu durchbrechen.
„Das ist es“, flüsterte Forester. „Das ist, was Angèle gesucht hat. Ein Weg, den Fluch endgültig zu brechen.“
„Vielleicht“, sagte der alte Mann leise. „Aber der Preis ist hoch. Angèle hat es nicht gewagt, das Ritual zu vollenden. Sie wusste, dass es etwas verlangt, das sie nicht bereit war zu opfern.“
Forester richtete sich langsam auf, das Buch fest in den Händen haltend. „Was für ein Opfer?“ fragte er mit düsterer Stimme.
Der alte Mann sah ihm tief in die Augen. „Die Dunkelheit gibt nichts umsonst, Fremder. Um das Ritual zu vollenden und die Schatten zu bannen, muss ein Leben gegeben werden. Und es wird nicht irgendein Leben sein – es wird das Leben eines Nachkommen des Hauses Trebault sein.“
Forester spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Angèle hatte das gewusst. Sie hatte gewusst, dass das Ritual ihr eigenes Leben fordern würde. Doch sie hatte den Mut nicht gehabt, es zu vollenden – und jetzt lag es an ihm, diese Entscheidung zu treffen.
„Es gibt immer einen Preis“, murmelte Forester und sah auf das Buch hinab.
Die Entscheidung lag nun vor ihm, schwer wie die Schatten, die das Château und Montferrat so lange umhüllt hatten.
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