Die nächsten Tage vergingen in einem beklemmenden Schweigen. Obwohl die Schatten des Château Noir verschwunden schienen und die Luft leichter war, lag dennoch eine unsichtbare Last über den alten Mauern. Major Forester konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Angèle, die so lebendig und stark wirkte, für den Fluch des Hauses Trebault geopfert werden sollte. Sie war an diesen Ort gebunden, gefangen zwischen den Geistern der Vergangenheit und einem dunklen Schicksal, das sie nie selbst gewählt hatte.
Forester verbrachte Stunden damit, in den Archiven des Châteaus nach Hinweisen zu suchen. Er durchforstete alte Bücher, handschriftliche Berichte und Briefe, die längst vergessene Geschichten erzählten. Doch je mehr er las, desto klarer wurde ihm, dass die Lösung für den Fluch nicht in der Vergangenheit allein zu finden war.
Angèle half ihm, so gut sie konnte, obwohl sie wusste, dass seine Suche vielleicht vergeblich war. Sie wirkte ruhiger, fast gefasst angesichts ihres bevorstehenden Schicksals, doch Forester konnte die Traurigkeit in ihren Augen nicht ignorieren. Jedes Mal, wenn sie sprach, klang es, als ob sie sich bereits verabschiedet hätte, als ob sie sich innerlich von dem Leben löste, das sie bald hinter sich lassen musste.
„Es gibt etwas, das wir übersehen haben müssen“, sagte Forester eines Abends entschlossen, als sie zusammen in der Bibliothek des Châteaus saßen. Vor ihm lag ein alter Plan des Gebäudes, den er gefunden hatte, und er deutete auf eine Stelle, die nicht richtig zu den heutigen Räumen zu passen schien. „Schau hier, Angèle. Diese Kammer – sie ist auf keinem der heutigen Pläne verzeichnet. Es muss ein verborgener Raum sein.“
Angèle trat näher an den Tisch und beugte sich über die Karte. Ihr Haar fiel sanft über ihre Schultern, und Forester bemerkte, wie müde sie aussah. „Ich erinnere mich nicht, jemals von einem solchen Raum gehört zu haben“, sagte sie leise. „Aber das Château hat viele Geheimnisse. Vielleicht gibt es dort etwas, das uns helfen kann.“
Forester nickte entschlossen. „Wir müssen es herausfinden. Vielleicht liegt dort der Schlüssel, um den Fluch zu brechen.“
Die beiden machten sich auf den Weg durch das Château, folgten dem Plan und suchten nach dem verborgenen Raum, den Forester auf der Karte entdeckt hatte. Die Flure waren dunkel und still, nur ihre Schritte hallten leise auf dem alten Steinboden wider. Die Kälte des Châteaus kroch ihnen in die Glieder, und obwohl die Schatten nicht mehr sichtbar waren, spürten sie dennoch ihre stille Präsenz, als ob sie immer noch irgendwo lauerten.
Schließlich kamen sie zu einer Stelle im nördlichen Flügel des Châteaus, die in den Plänen als Durchgang zu einem Raum gekennzeichnet war, der heute nicht mehr existierte. Forester klopfte an die Wände und untersuchte jede Ecke, bis er schließlich eine schmale, verborgene Tür entdeckte, die perfekt in die Wand eingelassen war. Der Eingang war mit einer dicken Staubschicht bedeckt, und es schien, als ob er seit Jahrhunderten nicht mehr geöffnet worden war.
„Das muss es sein“, flüsterte Forester, während er vorsichtig die verrostete Klinke drehte.
Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür, und ein modriger, kalter Luftzug wehte ihnen entgegen. Dahinter lag ein langer, schmaler Korridor, der in völliger Dunkelheit endete. Forester hob seine Laterne und trat als Erster ein, während Angèle ihm folgte. Die Wände waren feucht, und der Boden war mit einer dicken Schicht aus Staub und Schmutz bedeckt, was darauf hindeutete, dass dieser Korridor seit langer Zeit nicht betreten worden war.
Am Ende des Ganges öffnete sich der Weg zu einem kleinen Raum. Die Luft war stickig, und ein schweres Gefühl lag in der Stille, als ob die Zeit hier stehengeblieben wäre. In der Mitte des Raumes stand ein alter Steinaltar, überzogen mit Spinnweben und Staub. Auf dem Altar lag ein Buch, ähnlich dem, das Forester bereits gesehen hatte, aber viel älter und mit zerfallenen Seiten.
„Das muss es sein“, murmelte Angèle leise, als sie neben ihn trat. „Das Herz des Fluchs.“
Forester griff vorsichtig nach dem Buch, und als seine Finger das spröde Leder berührten, spürte er einen seltsamen, prickelnden Schmerz, als ob das Buch selbst ihn warnen wollte. Er öffnete es langsam, und die vergilbten Seiten knisterten, als ob sie die Geheimnisse der Vergangenheit nur widerwillig preisgeben wollten.
Die Worte waren in einer alten, fast vergessenen Sprache geschrieben, die Forester nur mühsam entziffern konnte. Doch je mehr er las, desto klarer wurde ihm, dass dieses Buch eine genaue Beschreibung des Fluchs und seines Ursprungs enthielt.
„Es war ein Ritual“, sagte Forester, seine Stimme war rau und leise. „Ein uraltes Ritual, das von den ersten Mitgliedern der Trebault-Familie durchgeführt wurde. Sie opferten das Leben eines Menschen, um Macht und Schutz für ihre Familie zu erlangen. Und dafür wurde ein Fluch ausgesprochen – einer, der auf jede Generation übergeht, bis das Blut der Familie rein gewaschen wird.“
Angèle starrte auf die Seiten, ihre Augen weit vor Entsetzen. „Das Blut…“, flüsterte sie. „Das bedeutet, dass nur ich den Fluch brechen kann. Mit meinem Tod endet es.“
Forester fühlte, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten. „Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, sagte er und blätterte hastig weiter, bis er eine Passage fand, die seine Vermutung bestätigte. „Hier. Es heißt, dass der Fluch nur gebrochen werden kann, wenn der Letzte der Trebaults bereit ist, zu gehen – aber nicht zu sterben.“
Angèle sah ihn fassungslos an. „Zu gehen? Was meinst du?“
Forester zeigte auf die Passage. „Wenn du das Château verlässt, ohne zurückzublicken, und nie wieder einen Fuß in diese Mauern setzt, wird der Fluch enden. Aber es wird ein Opfer sein. Du wirst alles hinter dir lassen müssen – das Château, deine Geschichte, alles, was dich mit diesem Ort verbindet.“
Angèle stand still, während sie die Bedeutung dieser Worte erfasste. „Und was ist mit dir?“ fragte sie schließlich, ihre Stimme kaum hörbar. „Was wird aus dir, wenn ich gehe?“
Forester trat näher an sie heran, seine Augen voller Entschlossenheit. „Ich bin bereit, alles zu tun, um dich zu retten, Angèle. Selbst wenn es bedeutet, dass ich dich gehen lassen muss.“
Eine lange, schmerzhafte Stille folgte, als Angèle ihn ansah, ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Aber was, wenn ich das nicht kann? Was, wenn ich nicht bereit bin, alles aufzugeben?“
Forester legte sanft seine Hände auf ihre Schultern und sah ihr tief in die Augen. „Du hast keine Wahl“, sagte er leise. „Wenn du bleibst, wirst du sterben. Und das kann ich nicht zulassen.“
Angèle schloss die Augen, ihre Tränen liefen leise über ihre Wangen. „Ich will nicht gehen“, flüsterte sie. „Aber ich weiß, dass ich es muss.“
Forester zog sie sanft in seine Arme, hielt sie fest, während die Stille des verborgenen Raumes über ihnen lag. „Du wirst frei sein“, flüsterte er.
Und mit diesen Worten wusste er, dass der Weg zurück zu einer Entscheidung führte, die das Leben von Angèle – und vielleicht auch seines – für immer verändern würde.
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