Die Nacht im Château Noir schien sich endlos hinzuziehen, doch irgendwann ließ der Schlaf Major Forester doch noch seine dunklen Umarmungen spüren. Doch es war kein friedlicher Schlaf. Immer wieder träumte er von jenen Schatten, die ihn zu verfolgen schienen, und von Lucien de Trebault, dessen kalte, stechende Augen ihn durch die Nebel der Zeit hindurch fixierten.
Am nächsten Morgen erwachte Forester schweißgebadet. Das Flüstern der letzten Nacht lag immer noch schwer in seinem Geist, wie das Nachhallen eines längst vergangenen Albtraums. Doch als er sich aufsetzte, wusste er, dass es mehr als nur ein Traum gewesen war. Die Schatten des Château hielten etwas verborgen, und er spürte, dass das Geheimnis näher an der Oberfläche lag, als es der Comte oder seine Tochter je zugeben würden.
Nachdem er sich angekleidet hatte, beschloss er, den Tag für seine Nachforschungen zu nutzen. Es war ihm klar, dass er das, was er in der Nacht gesehen und gehört hatte, nicht ignorieren konnte. Irgendetwas in diesem alten Haus rief nach ihm, und er musste herausfinden, was es war – bevor es ihn ganz verschlang.
Er begab sich in den Salon, wo er den Comte und Angèle beim Frühstück erwartete. Doch der Raum war leer, nur das schwache Licht der Morgensonne erhellte die antiken Möbel und die schweren Vorhänge. Ein Diener, der stumm und respektvoll wie immer erschien, informierte ihn, dass der Comte und seine Tochter heute früh in die umliegenden Gärten gegangen seien, um etwas Abstand von den Angelegenheiten des Châteaus zu gewinnen.
Diese Information war Forester willkommen. Es verschaffte ihm die Gelegenheit, ungestört seine Erkundungen fortzusetzen.
Mit festem Entschluss machte er sich auf den Weg zurück zu dem Raum, den er in der Nacht betreten hatte, wo das alte Buch und die vergilbten Briefe gelegen hatten. Doch als er dort ankam, fand er die Tür verschlossen. Sie war mit einem schweren Schloss gesichert, das er am Vorabend nicht bemerkt hatte. Es war, als hätte jemand das Schloss verriegelt, um zu verhindern, dass er den Inhalt des Zimmers erneut entdeckte.
„Das wird mich nicht aufhalten“, murmelte Forester vor sich hin. Er wusste, dass das Château groß und labyrinthisch war, und dass es sicherlich noch andere Wege gab, das Mysterium zu ergründen.
Er erinnerte sich an die Worte des Comtes: „Nicht alle Geheimnisse sind dazu bestimmt, entdeckt zu werden.“ Es klang in seinen Ohren wie eine Herausforderung, und Forester war nicht der Typ, der sich von einer solchen Warnung abschrecken ließ.
Während er die alten Flure entlangging, entdeckte er eine schmale Treppe, die er zuvor übersehen hatte. Sie führte in die unteren Bereiche des Châteaus, wahrscheinlich in die Kellergewölbe. Das Château war alt, und solche Gebäude hatten oft umfangreiche unterirdische Netzwerke, die einst zur Lagerung oder sogar zur Verteidigung genutzt wurden.
Forester zögerte einen Moment, doch dann stieg er die knarrenden Stufen hinab. Die Luft wurde kühler, je tiefer er ging, und ein modriger Geruch drang ihm in die Nase. Das schwache Licht seiner mitgebrachten Laterne warf lange Schatten auf die feuchten Steinwände. Es fühlte sich an, als würde er in das Herz des Château Noir selbst hinabsteigen – in die Tiefen, die seit Jahrhunderten nicht mehr von Menschen betreten worden waren.
Unten angekommen, fand er sich in einem langen, dunklen Gang wieder, der offenbar zu mehreren Kammern führte. Einige Türen waren fest verschlossen, doch eine am Ende des Ganges stand leicht offen, als hätte jemand sie kürzlich benutzt.
Vorsichtig trat Forester ein und hob die Laterne, um den Raum auszuleuchten. Es war eine weitläufige Kammer mit hohen Decken und schweren Steinsäulen, die den Raum durchzogen. In der Mitte des Raumes lag ein seltsames Muster auf dem Boden – ein Kreis aus altem, verblasstem Stein, in den Symbole und Runen eingemeißelt waren. Es war fast identisch mit der Zeichnung, die er in der Nacht zuvor in den Papieren auf dem Schreibtisch gefunden hatte.
Forester spürte, wie sich eine Gänsehaut auf seiner Haut bildete. Was auch immer hier geschehen war, es war unheilvoll. Die Symbole erinnerten ihn an das, was er über okkulte Rituale gelesen hatte – Beschwörungen und Rituale, die uralte Kräfte heraufbeschwören sollten.
Er kniete sich hin und berührte die eingemeißelten Symbole. Sie schienen kühl und glatt, als ob sie nicht nur in den Stein, sondern in die Essenz dieses Ortes selbst eingraviert worden wären.
In diesem Moment hörte er hinter sich Schritte.
Er sprang auf und drehte sich um, doch es war niemand zu sehen. Die Schritte verhallten im dunklen Korridor. Sein Herz raste, doch Forester ließ sich nicht einschüchtern. Er wusste, dass das Château Noir seine eigene Seele hatte, und dass es wahrscheinlich war, dass er von den Geistern der Vergangenheit beobachtet wurde.
Plötzlich fiel sein Blick auf eine weitere Tür, die in eine kleinere Kammer führte. Neugierig schob er sie auf und entdeckte eine weitere Überraschung: Ein Altar aus schwarzem Marmor, über und über mit alten Kerzen bedeckt, von denen einige noch frische Wachstropfen hatten. Auf dem Altar lag ein Buch – dasselbe alte Buch, das er in der Nacht zuvor gesehen hatte, Das Vermächtnis der Schatten.
Forester trat näher heran. Das Buch schien hierher gebracht worden zu sein, nachdem er es im Salon hinterlassen hatte. Doch wer hatte es hierher gebracht? Und warum?
Er öffnete das Buch und blätterte durch die Seiten. Die Worte schienen sich vor seinen Augen zu bewegen, als ob sie lebendig wären, als ob sie auf seine Anwesenheit reagierten. Forester las weiter:
„Das Ritual ist nur der Anfang. Jener, der den Kreis betritt, wird die Macht der Schatten entfesseln. Doch wer die Dunkelheit ruft, muss bereit sein, den Preis zu zahlen. Es gibt keinen Ausweg, wenn die Schatten einmal Besitz ergriffen haben.“
Forester starrte auf die Worte und fühlte, wie sich ein kaltes, beklemmendes Gefühl in seiner Brust ausbreitete. Es war, als ob das Buch zu ihm sprach, ihn warnte – oder vielleicht auch verführte, tiefer in die Mysterien des Château Noir einzutauchen.
Er hörte erneut Schritte hinter sich, dieses Mal jedoch war er sicher, dass sie real waren. Er drehte sich um und sah Angèle, die in der Tür stand. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen groß vor Sorge.
„Major“, sagte sie leise, fast flüsternd. „Was tun Sie hier unten?“
Forester trat vom Altar zurück und musterte sie. „Ich könnte Sie dasselbe fragen, Mademoiselle. Was ist dieser Ort? Und warum habe ich das Gefühl, dass Sie und Ihr Vater mir nicht die ganze Wahrheit über das Château Noir erzählt haben?“
Angèle senkte den Blick, als ob sie mit sich rang. „Es gibt Dinge, die besser verborgen bleiben, Major“, sagte sie schließlich. „Es gibt Geheimnisse, die uns alle schützen – Sie eingeschlossen. Dieser Ort… er ist nicht für die Lebenden.“
Forester trat näher an sie heran, entschlossen, Antworten zu bekommen. „Ich bin hierher gekommen, um die Wahrheit zu finden. Und ich werde nicht aufhören, bis ich sie habe. Was hat es mit dem Ritual auf sich? Was haben Lucien de Trebault und diese Schatten, von denen Ihr Vater sprach, wirklich bewirkt?“
Angèle zögerte, doch dann sah sie ihm fest in die Augen. „Lucien hat etwas gerufen, das nicht sterben kann, Major. Etwas, das immer noch hier ist. Und wenn Sie es zu tief ergründen, werden auch Sie Teil dieses Fluchs.“
Forester schauderte. Doch anstatt ihn abzuschrecken, spornte ihn Angèles Warnung nur noch mehr an.
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