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Freitag, 28. Juli 2023

Amtsrichter Johnsons Höhepunkte

 


Amtsrichter Johnsons Höhepunkte.

 von Georg Busse-Palma

Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger

Jeder Mensch hat in seinem Leben einige Höhepunkte, die ihm bis sein seliges oder unseliges Ende unvergesslich bleiben.

Auch Ernst Alexander Johnson hatte die seinigen.

Den ersten hatte er damals erreicht, als er, der eben Amtsrichter in dem kleinen polnischen Städtchen geworden war, seine alte Studentenliebe heimführte.

Am ersten Abend, als sie beisammen sassen, schmiegten sie sich fest aneinander und blickten wortlos in ihre neue Heimat.

 

Ernst Alexander, in dem ein gefesselter Dichter lag, seufzte tief auf. Auf den Goldgrund des gegenwärtigen Glückes malten seine Träume Blüten und Kränze einer späteren Zukunft, und das Grün der Hoffnung war überall.

Die Augen wurden ihm feucht. Er griff nach der Hand seiner Frau und küsste sie, so dass sie seine Thränen spürte.

Auch ihre Blicke waren verschwommen. Vielleicht hatte sie seine Träume mitgeträumt. Sie fuhr ihm mit den Fingern in das braune, wellige Haar.

»Wie kann man nur so weich sein,« sagte sie. »Wie kann man nur so weich sein, du Lieber?« …

 

 

Sie lebten sehr glücklich zusammen. Nur einschränken mussten sie sich, denn das Gehalt war nicht gross. Das thaten sie aber gern. Ernst Alexander trank einen Schoppen weniger als früher, und gab nie mehr als fünf Pfennig Trinkgeld. Allmählich gewöhnte er es sich überhaupt ab, in ein Restaurant zu gehen. Wozu auch? Seine junge Frau machte es ihm daheim so behaglich wie möglich, und dass ihn der Kronenwirt, Herr Ignatz Malczewski, nur noch obenhin grüsste, liess sich verschmerzen. Als sie dann gar noch anfing, sich mit Schneiderei zu beschäftigen und ganz winzig kleine Häubchen und Jäckchen verfertigte, da brachte er es natürlich nicht mehr über das Herz, sie auch nur einen einzigen Abend allein zu lassen.

Es sollte aber früh genug anders werden. Nicht, dass ein Streit ihre Harmonie getrübt hätte! Aber eines Tages trat einer in ihr Häuschen, den sie beide noch in weiter Ferne geglaubt hatten. Der präsentierte die Rechnung für das stille, reiche Glück, das sie ein volles Jahr hindurch am Tisch des Lebens genossen hatten, und die Rechnung war hoch. Frau Marianne brachte ein totes Kind zur Welt, und drei Tage später folgte sie dem kleinen Wurm nach in die Grube.

Ernst Alexander blieb allein.

Fortan lebte er ganz einsam. Eine weiche Natur von Geburt an, schien der Verlust seines Weibes ihn ganz gebrochen zu haben.

 

»Es geht nicht so weiter mit Johnson,« sagte der »Aufsichtführende« jeden Tag. »Er vergrämt und vereinsamt immer mehr. Wir müssen etwas thun, um ihn aus dieser Lethargie zu reissen.«

»Ja, es ist schade um ihn,« meinten auch die anderen Herren. »Aber was können wir thun?«

»Was wir thun können? Er muss wieder unter Menschen. Wir wollen ihn bitten, einmal des Abends mit uns zu kommen, zum Bier.«

Sie besuchten ihn auch. Aber er wehrte sich.

»Nein, nein,« sagte er eigensinnig. »Ich will zu Hause bleiben.«

Dann, als sie nicht aufhörten, in ihn zu dringen, wurde er weicher.

»Was soll ich wohl unter euch? Ich kann nicht mehr so fröhlich sein wie ihr und wäre ein trauriger Gast.«

Es fehlte ihm aber doch die Energie, um auf die Dauer zu widerstehen. Er liess sich überreden.

Im Gasthof zur Krone, wo sich die Honoratioren allabendlich versammelten, wurde immer tüchtig gekneipt. Diesmal aber, wo Ernst Alexander Johnson nach so langer Abwesenheit wieder in den verräucherten Räumen erschien, ging es besonders ausgiebig zu.

Von allen Seiten stiess man mit ihm an. Widerwillig, mit melancholischem Lächeln, kam er nach, in der Vornahme, bei der ersten schicklichen Gelegenheit die Gesellschaft zu verlassen.

So oft er sich aber sagte, dass es jetzt an der Zeit wäre, vermochte er doch nie, seinem Unbehagen ein Ende zu machen. Ratlos den fetten Oberkörper hin und her wiegend und ohne Freude, blieb er Stunde um Stunde an der Tafel. Des Trinkens ungewohnt, wurde er früh berauscht.

Es war kein angenehmer Rausch.

Seine Kollegen mussten ihn nach Hause führen.

Mit schwerem Kopf und Bitterkeit in Herz und Kehle wachte er am nächsten Morgen auf. Ein schwerer Druck auf seiner Stirn liess den ganzen Tag nicht nach. Er vermochte nicht zu widerstehen, als Assessor Lindenborn, mit dem er gemeinschaftlich das Gericht verliess und der nicht weniger verkatert war, einige Auffrischungsschnäpse vorschlug. Sie setzten sich wieder in das kühle, halbdunkle Kneipzimmer und standen nicht eher auf, als bis es gegen Mitternacht ging.

Einmal aus der gewohnten Bahn geschleudert, fand er nun gar keinen Halt mehr. Der Kronenwirt grüsste ihn jetzt sehr höflich, aber seine Kollegen schüttelten aufs neue die Köpfe.

»Es geht nicht so weiter mit Johnson,« meinten sie alle. »Wir müssen ihn zur Vernunft bringen. Er vertrinkt alles, und es ist schon jetzt nichts Seltenes, dass er am hellen Tage berauscht ist.«

Eines Abends, als sie in vorgerückter Stunde in ihrer Stammkneipe zusammensassen, machten sie ihm Vorhaltungen.

 

Er war schon betrunken, und unter ihren wohlmeinenden Worten packte ihn das graue Elend.

»Ich weiss, dass ich ein Lump bin,« sagte er schluchzend. »Ein Lump, jawohl, ein Lump. Aber warum habt ihr mich nicht sitzen lassen in meinem Jammer? Warum habt ihr mich gezwungen, mit euch zu trinken?«

»Aber, lieber Kollege! Es ist doch ein Unterschied zwischen Trinken und Trinken. Wir haben es doch gewiss nur gut gemeint.«

Amtsrichter Johnson lächelte bitter.

»Gut gemeint, jawohl. Alle haben es gut gemeint. Alle, nur der Herrgott nicht. Nur der Herrgott alleine nicht!« – – – –

 

 

Acht Tage später hatte er eine Sitzung des Schöffengerichts zu leiten.

Alle waren schon versammelt. Nur der Amtsrichter fehlte.

Da sandte man den Gerichtsdiener nach ihm aus.

Der alte Klemming traf ihn, wie er gerade, hin und her schwankend, sich vergebens Mühe gab, die Thür seines Hauses aufzuschliessen. Es war ersichtlich, dass er eben erst, gegen elf Uhr vormittags, die Schenke verlassen hatte.

»Nun, Klemming, was ist denn?« lallte er.

»Herr Amtsrichter möchten auf das Gericht kommen. Die Herren Schöffen warten schon alle.«

»Die Herren Schöffen? Wer denn, Klemming?«

 

»Herr Kaufmann Tietz, Herr Tischlermeister Maczkowski, Herr Rentier Priemchen« …

»Was Priemchen ist auch da? Hat der Kerl denn schon ausgeschlafen? Na, ich komm schon!«

Ohne sich umgekleidet zu haben, Wäsche und Kleidung beschmutzt und zerknittert, ging er dem kopfschüttelnden Diener voran.

Unterwegs pfiff er ein Kneiplied vor sich hin. Es schien ihm gar nicht klar zu sein, wohin er gehen musste. Der alte Klemming wies ihn zurecht, sonst wäre er am Gericht vorüber geschritten.

Man warf ihm die Amtsrobe über. Dann trat er in den Saal.

Mit würdevollen Gesichtern sassen die Schöffen auf ihren Stühlen. Der Angeklagte, ein blasser, junger Bursche, erhob sich, als der Talar sichtbar wurde. Aller Augen wandten sich auf den Richter.

Mit schweren, unsicheren Schritten näherte er sich seinem Tisch.

Da bemerkte er den Rentier Priemchen, mit dem er oft zusammen getrunken hatte. Ein breites Lachen zog sich über sein gedunsenes Gesicht, das vor Betrunkenheit glühte.

»Na, alter Schwede,« rief er ihm mit heiserer Stimme zu, »auch hier?«

Erschrocken fuhren alle auf.

»Setzen Sie sich doch, um Gottes willen,« flüsterte Priemchen.

»Gleich, Priemchen, gleich! Erst den Cantus.«

Und der königliche Amtsrichter Ernst Alexander Johnson stellte sich in seiner vollen Amtstracht an den Rand des Podiums und erklärte feierlich:

»Zur Eröffnung einer urfidelen Schöffensitzung beginnen wir mit dem schönen Liede:

Wer kommt dort von der Höh’?

Wer kommt dort von der Höh’?

Wer kommt dort von der ledernen Höh’,

Ça, ça ledernen Höh’,

Wer kommt dort von der Höh’?« …

Während er den ersten Vers mit dröhnender Stimme absang, verbreitete sich eine Todesstille um ihn.

Niemand vermochte zu lächeln. Bleich und fassungslos blieb jeder auf seinem Stuhl, und jeden durchzuckte die Ahnung, dass hier ein Menschenschicksal seinem Ende zuneigte.

Er begann noch den zweiten Vers. Mit den weiten Ärmeln seiner Robe stiess er beim Taktschlagen an das schwarze Kreuz, das den kleinen, silbernen Leib Christi trug. Es stürzte vom Tisch und schlug mit dumpfem Hall auf die Dielen.

Da unterbrach er sich.

Mit blöden, blutunterlaufenen Augen blickte er hinunter und dann auf die Beisitzer.

»So, so, ach – so –« stammelte er dann.

Ein Zucken ging durch seinen Körper. Schwer liess er sich in den Sessel fallen.

Aber die Besinnung war ihm zu spät gekommen. Die Sitzung wurde vertagt, und wenige Tage darauf war Ernst Alexander Johnson aus dem Richterstande entfernt. – –

 

Wochen, Monate und Jahre vergingen. Der Amtsrichter a. D. war ein stadtbekannter Trunkenbold geworden.

Als ihm niemand mehr Kredit gab, fing er an, seine ganze Habe zu verkaufen. Ein Stück nach dem andern wanderte zum Trödler.

Eines Abends sass er in seiner leeren, unfreundlichen Wohnung, aus der selbst die Wandbilder schon lange zu Geld gemacht worden waren, und zerbrach sich den Kopf, was er noch verkaufen könnte. Aber nichts fiel ihm ein. Ein Tisch und einige Stühle bildeten ausser einem kleinen Wäscheschrank sein gesamtes Mobiliar. Verkäufliches war aber nur noch in der letzten Schublade des Schrankes, und vor der hatte er eine heilige Scheu.

 

Endlich entschloss er sich doch, das Fach zu öffnen, und zitternd und scheu, wie ein Dieb, sah er hinein. Da lag alles noch so wie vor Jahren: die Häubchen und die Jäckchen, die Windeln und das spitzenbesetzte Taufkleidchen. Es war in zwei grössere Abteilungen gesondert, die mit blauseidenen Bändern umwickelt waren. Daneben lagen noch einige Untersachen seiner Frau.

Das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf, als er diese letzten äusserlichen Erinnerungen an so viel Glück und Hoffnung vor sich sah.

Er kämpfte innerlich. Dann aber griff er doch, während die Schamröte ihm bis in die Stirn stieg, die Pakete heraus.

In der Nähe seiner Wohnung befand sich eine kleine Branntweinschenke, in der wandernde Burschen, verkommene Handwerker und der Amtsrichter a. D. verkehrten. Der Wirt war ein gefälliger Mann und nahm ebenso gern Kleidungsstücke und andere Sachen in Zahlung, als bares Geld. Zu dem begab er sich.

Er bestellte einen Schnaps und ein Käsebrot. Der Besitzer des Lokals, ein dicker, aufgedunsener Riese, der auf einem Auge blind war, musterte ihn misstrauisch. Er brachte das Verlangte erst, als er das Bündel sah, das Ernst Alexander neben sich gelegt hatte.

An den Nachbartischen, die klebrig waren und wie das ganze Lokal nach vergossenen Getränken rochen, sassen mehrere junge Leute. Als es ans Zahlen kam, musste er das Paket öffnen. Wie die Jäckchen und Windeln zum Vorschein kamen, erscholl ein rohes Gelächter.

»Von wo haben Sie das denn?« fragte der Wirt verdutzt.

»Von meinem Kinde.«

»Haben Sie denn ein Kind?«

Ernst Alexander biss die Zähne zusammen.

»Es ist tot,« sagte er finster. »Sonst säss’ ich nicht hier.«

Der Wirt schien sich zu erinnern.

»Ach so, Ihre Frau starb ja auch damals.«

»Ja, sie starb auch.«

»Und das wollen Sie jetzt verkaufen?«

Der Amtsrichter a. D. hörte die Verachtung in diesen Worten und wagte nichts zu erwidern. Mit gesenktem Kopf verliess er das Zimmer und trat hinaus. Zwölf Silbergroschen hatte er in der Hand.

Nach einer unruhigen Nacht wachte er am nächsten Morgen früh auf. Noch unangekleidet sass er mit wirrem Hirn auf dem Bettrand, und allmählich trat ihm wieder ein Bild vor die Seele, das ihn im Schlafe gequält und gepeinigt hatte.

Es war im Traume seine tote Frau zu ihm gekommen. Sie trug ein weisses, faltiges Gewand, und an ihrer Rechten führte sie ihr Kind. Das Kind war nackend und weinte bitterlich.

»Du hast ihm seine Hemdchen verkauft. Nun friert es,« sagte die Mutter.

 

Ernst Alexander bekam das nicht mehr aus dem Gedächtnis. Den ganzen Tag trug er daran, und der Nebel, der jahrelang vor seinen Augen gelegen hatte, verschwand mehr und mehr. Er sah alles, wie es wirklich war, nackt und nüchtern. Er sah, dass der letzte Teil seines Lebens nichts als Schmutz und Schande gewesen war, und Verzweiflung überfiel ihn. Er sprach mit sich und mit den Toten, die ein Traum ihm heraufbeschworen hatte, und alles in ihm ward voll von Bitterkeit und Selbstverachtung.

»Es ist keine Liebe mehr für mich, nicht im Himmel und nicht auf der Erde,« sagte er laut.

Seine Worte dröhnten in dem leeren Gemach.

 

Er schrak zusammen.

Dann schlug er mit der Faust auf den Tisch und spie aus. – –

 

Die Abendsonne funkelte und sprühte auf dem Schieferdach des alten Klosterturmes. Sie brach sich auch in den Scheiben des stillen, kleinen Hauses und drang bis in das Zimmer.

Dort blieb sie lange und leuchtend.

Inmitten der gemalten Decke, an der kleine Amoretten mit roten Rosen spielten, steckte ein eiserner Haken, der früher eine Hängelampe gehalten hatte.

Die Lampe war schon lange fort und brannte schon lange nicht mehr.

Jetzt hing ein hänfener Strick daran, und an dem Strick hing ein fetter, gedunsener Leichnam.

Das war der zweite Höhepunkt im Leben Ernst Alexander Johnsons. Sein zweiter und letzter im Leben und im Sterben: zwei Fuss über den Dielen. –

 

 

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