Im Pfarrhaus.
Eine stille Geschichte.
von Georg Busse-Palma
Ursprünglich 1902 in Leipzig veröffentlicht bei Hermann Seemann Nachfolger
»Auch dieses hat seine Geschichte. Auch dieses.«
Der alte Pastor sagte es mit einem halb wehmütigen, halb frohseligen Lächeln, und über seine hellen, kinderguten Augen legte es sich wie der feine, blaue Schleier einer lieben Erinnerung.
Dann, sich die erloschene Cigarette wieder über der Lampe anzündend, fuhr er fort: »Es haben mich schon viele gefragt, warum ich statt der Pfeife, die ja mit meinem Stande unzertrennlich verbunden scheint, an Sonntagen immer nur Cigaretten rauche, trotzdem es mir nicht gesund ist, und noch dazu aus so unbeholfenen Rohrspitzen. Ich will es Ihnen erzählen, wenn Sie vielleicht auch über die Thorheit eines altmodischen Mannes lächeln werden. Haben doch so viele irgend eine Gewohnheit, die anderen thöricht erscheint, die sie aber hegen und pflegen, weil sie ihnen hilft, ein liebes Gedenken wachzuhalten … Schrauben Sie, bitte, die Lampe etwas niedriger, lieber Freund!«
Der Kaplan, der dem alten Herrn gegenüber sass, gehorchte. Ein halbes, gedämpftes Licht lag nun über den hier und da wurmstichigen, zwei oder drei Generationen alten Möbeln und den vergilbten Büchern und Schriften, die in grosser Anzahl, aber in bemerkbarer Unordnung darauf lagen. Die grossen Holzscheite in dem eisernen Ofen knisterten mitunter, und die Flamme und das erhitzte Petroleum surrten vernehmlich.
»Es sind jetzt gegen dreissig Jahre her, dass mich mein seliger Vorgänger in dieser Pfarre als Kaplan zu sich berief. Ich war damals wohl so alt wie Sie, fünfundzwanzig. Von vielen Seiten wurde ich noch gedrängt, erst, wie die meisten meiner Kommilitonen, nach Deutschland zu gehen, nach Leipzig oder nach Rostock, wo wir Ungarn grössere Stipendien geniessen, um dort meine theologischen Studien zu vervollständigen. Aber mir war das Studentenleben sauer geworden. Arm wie ich war, hatte ich mir durch Stundengeben fast jeden Bissen Brot selber verdienen müssen. Ich nahm also an, und so kam ich in diese Gemeinde. Das damalige Pfarrhaus war noch nicht so vornehm wie dieses. Es stand auf demselben Platze, aber das Dach war mit Stroh gedeckt, die Wände waren viel niedriger und die Öfen rauchten. Mitunter froren wir im Winter, aber es hat mir doch leid gethan, als es abgerissen wurde. In dem alten bin ich jung und glücklich gewesen, in das neue bin ich schon mit grauen Haaren eingezogen, vereinsamt bis auf meine Tochter. Meine selige Frau hat es nicht mehr erlebt … Mit dem geistlichen Herrn kam ich in ein so freundschaftliches Verhältnis, dass ich mich ihm gegenüber bald mehr als Sohn des Hauses, denn als sein Kaplan fühlte. Weniger gut gelang mir dies bei seiner Tochter. Er war Witwer und sie, die ebenso alt wie unsere Böske sein mochte, also neunzehn Jahr, führte ihm die Wirtschaft. Schüchtern und ohne Erfahrung im Verkehr mit Damen, ging ich ihr beinahe aus dem Wege, so dass wir uns eigentlich nur bei den gemeinsamen Mahlzeiten sahen.
Wenn ich nach beendetem Nachtmahl mit meinem seligen Vorgänger, wie es gewöhnlich war, noch ein Stündchen am Tische sitzen blieb, um über Weltläufte oder Gemeindeangelegenheiten zu plaudern, sass sie immer ganz still am anderen Ende der Tafel, mit einer Häkelei beschäftigt oder in alten Jahrgängen einer illustrierten Zeitschrift blätternd. Mitunter glaubte ich dann zu bemerken, dass sie hier und da das feine Köpfchen hob und mich verstohlen von der Seite ansah. Es hätte aber auch eine Täuschung sein können, und so gab ich denn einige Zeit hindurch acht, bis es mir gelang, ihre Augen mehrmals auf frischer That zu ertappen. Wenngleich ich mir nichts dabei dachte, beunruhigte mich das doch, und ich musste mir Mühe geben, mit meinen Gedanken bei dem Thema des Gesprächs zu bleiben, das der geistliche Herr mit mir führte.
Ich mochte schon gegen sechs Monate ihr Hausgenosse gewesen sein, als unser Schullehrer nach einer benachbarten Stadt gewählt wurde. Mitten im Sommer ging er uns davon, und nun begann für uns die schwere Aufgabe, einen neuen zu suchen. Beinahe jeden Sonntag kam einer, einmal sogar zwei zugleich, die aber alle den Beifall der Gemeinde nicht fanden. Da sagte eines Abends der alte Herr lachend zu mir: ›Wissen Sie, am liebsten hätte ich einen jungen und unverheirateten. Das gäbe dann vielleicht noch einen Mann für die Böske!‹
Sie sass wie gewöhnlich über einer Häkelei und wurde ganz rot, als sie das hörte. Dann blickte sie zu uns herüber. ›Sag das nicht, Papa! Ich mag keinen Schullehrer!‹
Sie hatte nervös, beinahe heftig gesprochen, wie ich es noch nie von ihr gehört hatte. Ich sah ganz deutlich, als sie dann den Kopf wieder über ihre Arbeit bog, dass ihr rechtes Ohr ordentlich glühte, was bei ihr – Gott habe sie selig! – ihr lebelang ein Zeichen der Erregung blieb.
Ihr Vater war aber gut aufgelegt.
›Warum denn nicht, Kind?‹ fragte er heiter. Und da sie ihm keine Antwort gab, wandte er sich direkt an mich.
›Nun, was sagen Sie denn dazu?‹
Ich wusste eigentlich gar nichts darauf zu sagen. Es schien mir unschicklich, in Gegenwart eines jungen Mädchens von ihrem künftigen Manne zu reden, und so wurde ich beinahe so rot wie sie. Nach einigen Minuten des Stillschweigens fühlte ich aber doch die Verpflichtung, etwas zu erwidern, und so antwortete ich denn so vorsichtig wie möglich: ›Wenn er ein ehrenhafter Mann ist, wäre es das Schlimmste noch lange nicht. Man kann auch in einem Schulhause glücklich werden, Fräulein Böske!‹
Da blickte sie wieder auf, aber diesmal gerade mir in das Angesicht. Ihre Wangen wurden ganz bleich. Die grossen, braunen Augen hefteten sich wohl eine Minute lang auf mich. Dann rollten langsam zwei Thränen daraus, und sie beugte sich wieder über die Häkelei. Sie sagte keine Silbe, aber nach diesem Blicke war es mir plötzlich, als ob ich eine Todsünde begangen hätte.
Bald darauf stand sie auf und ging in die Küche. Ich hörte sie dort mit dem Geschirr herumhantieren. Heute weiss ich, dass sie damals mehr geweint als gewirtschaftet hat. Damals fühlte ich das nur, und sobald es thunlich war, verabschiedete ich mich und nahm in meine Stube ganz seltsame und unerklärliche Empfindungen mit.
Ich hatte sie bis dahin immer ›Fräulein Böske‹ angeredet, was, wie Sie wissen, eine Koseform von Erszibet ist, weil ich es nie anders gehört hatte. Das ganze Dorf nannte sie so. Am nächsten Tage aber redete ich sie mit ihrem Vatersnamen an. Ich kann es heute eben so wenig sagen wie damals, warum ich es that, aber ich weiss noch, dass es mich schmerzte, dass sie so gar kein Zeichen des Erstaunens darüber sehen liess. Sie war gleichmässig freundlich wie immer; es schien mir aber oft, auch wenn sie mitten in der Mittagssonne stand, dass ein Schatten auf ihrem Gesichte läge. Seit diesem Abende ging es mir überhaupt ganz seltsam mit ihr.
Ich ertappte mich dabei, dass ich in der vorgefassten Absicht, auf ihre heimlichen Blicke acht zu geben, in das Speisezimmer trat, und dass es mich ordentlich schmerzte, wenn sie hartnäckig alles andere eher ansah als mich. Wir hatten die Rollen ganz getauscht. Jetzt spähte ich so oft wie nur möglich zu ihr herüber und dabei passierte es mir, dass ich mit einem Male bemerkte, wie wunderschönes Haar sie doch hatte. Es war hellbraun, und wenn gerade ein volles Lampenlicht darauf schien, blitzten ihre Stirnlöckchen ganz goldig. An einem der folgenden Tage fing ich gar an, mich über ihren graziösen Gang zu freuen. Sie war etwas schwächlich, aber sehr zierlich gebaut, und beim Gehen stiess sie mitunter mit den Knieen an die Röcke, was mir immer sehr lieblich vorkam.
So ging es Tag für Tag. Jeden Tag entdeckte ich etwas Neues an ihr, und am Ende konnte ich auch meine Gedanken gar nicht mehr losreissen von so viel Schönheit.
Ich erinnere mich gut, wie ich einst an meinem Schreibtisch in die Höhe fuhr. Die Lampe war weit heruntergebrannt. Ich musste wohl stundenlang geträumt haben und ich weiss, dass ich in diesen Träumereien ihre leichtgeöffneten, roten Lippen ganz dicht vor mir gesehen und sie wieder und wieder geküsst hatte. Ich war darüber erschrocken und legte mich eilig zu Bett, bis zum Morgen beinahe in einer alten Postilla, gedruckt bei Hans Lufft, anno domini 1567, lesend, ehe mir der Schlaf kam.
Diese Postilla besitze ich noch heute. Ich habe mir noch oft daraus andere Gedanken angelesen und halte sie in hohen Ehren. Sie ist reich mit Holzschnitten verziert und trägt als Titelbild den gekreuzigten Heiland, zu dessen beiden Seiten Doktor Martinus Luther und der sächsische Kurfürst knien. Aber mir ist sie mehr wegen dieser Erinnerungen wert als wegen ihres Altertums.
Unter diesen Umständen konnte ich es mir nicht länger verhehlen, dass ich eine innige Liebe zu ihr hegte, und nach den gemachten Beobachtungen schien es mir auch, als ob dieselbe keineswegs einseitig wäre. Obwohl mich dieses letztere nun mit einem ganz merkwürdigen, schamhaften Stolz erfüllte, trug es doch nur dazu bei, meine Schüchternheit zu erhöhen, und wenn sie mir bei Tisch, wie es späterhin hier und da doch wieder der Fall war, einen freundlich schelmischen Blick zuwarf, wurde ich rot wie ein Schulbube und vermochte vor Verlegenheit keinen Bissen mehr hinunterzubringen. So lebten wir, gegenseitig unsere Liebe ahnend, monatelang nebeneinander her, ohne dass ich je den Mut gefunden hätte, ihr auch nur ein einziges vertrauteres Wörtchen zu sagen. Es wurde zum zweiten Male Herbst, als in einem weiter entfernteren Dorfe der Geistliche starb und ich mich, da ich ja nicht ewig Kaplan bleiben konnte, um die vakante Stellung bewarb.
Meine Probepredigt war gerade auf einen Sonntag angesetzt worden, an dem der alte Herr eine Eheschliessung in Neograt, das auch zu seinem Sprengel gehörte, vorzunehmen hatte. Sein Ziel lag mitten auf meinem Wege, und so benutzten wir beide denselben Wagen.
Als wir abfahren wollten, trat die Böske zu uns heran. Erst küsste sie ihren Vater, dann reichte sie mir die Hand und wünschte mir Glück. Aber ihre Augen waren traurig dabei und ihre Stimme kaum hörbar.
Ich wurde gewählt.
Als ich gegen Abend nach Hause kam, war der alte Herr noch nicht da. Nur seine Tochter kam mir entgegen. Ich war voller Freude und teilte ihr fröhlich meine Neuigkeit mit. Ein stummer Händedruck war ihre Entgegnung. Da es schon dämmerte, konnte ich den Ausdruck ihres Gesichtes nicht erkennen. Als ich dann aber in das Speisezimmer trat, bemerkte ich, dass sie ganz blass war und verweinte Augen hatte. Und plötzlich fiel es mir schwer auf das Herz, dass meine Wahl ja auch eine Trennung von ihr bedeutete. Das Dorf war weit entfernt. Selten nur hätte ich auf einige Stunden zum Besuch herüberkommen können. War es darum, dass sie so traurig aussah?
Ich konnte nicht daran zweifeln. That mir doch selber bei aller anfänglichen Freude das Herz weh. Und es wurde immer ärger. Die Kehle war mir wie zugeschnürt, und ich fühlte, dass ich keinen Bissen würde hinunterbringen können. Ich entschuldigte mich damit, dass ich schon gegessen hätte, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Trübselig sass ich am Tisch und brannte mir eine Cigarette an, während wenigstens sie so that, als ob sie einige Brocken zu sich nähme.
Mit jeder Rauchwolke, die ich in die Luft blies, verfinsterte sich auch mein Gedankenkreis. Ich würde also von ihr gehen, ohne ihr meine Liebe gestanden zu haben! Wir würden meilenweit voneinander wohnen und alt und grau werden, ohne uns zu finden! Denn ich kannte meine Schüchternheit gar gut und wusste, dass ich, einmal fort von hier, es nie zu einem förmlichen Antrage bringen würde. Der Gedanke, jetzt, wo wir so schön allein waren, einfach auf sie zuzugehen und ihr Köpfchen in beide Hände zu nehmen und es zu küssen, kam mir auch. Aber mir fehlte jeglicher Mut dazu, und wir hätten uns wohl wirklich für ewig verloren, wenn der gute Gott uns nicht durch ein ganz unscheinbares Ereignis geholfen hätte.
Als ich nämlich eben dabei war, mir eine zweite Cigarette zu drehen, stiess ich meine kleine Holzspitze aus Unachtsamkeit mit dem Ellenbogen vom Tisch. Ich stand auf, um sie zu suchen und war dabei so unglücklich, gerade mit dem Fuss darauf zu treten, so dass sie in zwei Teile zerbarst. Damals war ich ein leidenschaftlicher Cigarettenraucher, konnte es aber ebensowenig wie heute vertragen, dass mir der Tabak direkt in den Mund kam, und war somit über dies Malheur sehr betrübt. Eine andere besass ich nicht, und aus dem benachbarten Dorfe konnte ich mir zu dieser Stunde keine mehr holen lassen.
Trotzdem ich den Kopf voll anderer Gedanken hatte, muss sich der Missmut darüber wohl auf meinem Gesichte ausgeprägt haben, denn meine liebe Böske stand freundlich und gefällig wie immer gleich auf, um in den Kästen nach einem passenden Ersatz zu suchen. Da es jedoch vergeblich war, fragte sie mich schüchtern, ob ich nicht bis morgen mit einem gehöhlten Rohr vorlieb nehmen möchte. Sie hätte selbst als Kind daraus geraucht, von bösen Buben verführt, und wüsste, dass es sehr schön ginge.
Nach dieser Hinzufügung musste ich natürlich erklären, dass ich diese Art von Spitzen allen anderen vorzöge, wenn ich sie auch noch nicht praktisch erprobt hätte. Ich glaubte, dass zufällig etwas Geeignetes im Hause wäre, und war voller Erstaunen, als ich hörte, wie sie das Hausthor öffnete und die zum Garten führende Steintreppe hinabstieg.
Dann aber fuhr es mir siedend heiss durch den Kopf, dass sie bis zum Teiche gehen wollte, um mir eine Spitze zu schneiden. Es war ein sehr dunkler Abend und der Weg zum Rohr schmal und holprig. Auf keinen Fall durfte ich sie dort allein gehen lassen.
Ich holte mir also geschwind mein kleines Laternchen, setzte mir eine Mütze auf und eilte ihr nach. Sie musste aber gleichfalls sehr schnell gegangen sein, denn als ich noch auf dem Wege war, hörte ich sie schon das Röhricht prüfend auseinander biegen und sah ihre helle Schürze zu mir herüber schimmern.
Als ich sie erreicht hatte, redete ich sie ein wenig erregt und mit sanftem Vorwurfe auf dieses Wagnis hin an, das für mich doch allzuviel der Freundschaft wäre und bei dem sie leicht hätte zu Schaden kommen können.
»O, ich kenne die Wege,« erwiderte sie mir. »Überdies werde ich ja nicht mehr lange Gelegenheit haben, Ihnen nützen zu können. Lassen Sie es sich für dieses Mal also nur ruhig gefallen!«
Diese Worte schnitten mir tief in das Herz. Als ich dann in dem Bestreben, ihr zu leuchten, mit meiner Hand ihre Schulter berührte, fühlte ich, dass sie am ganzen Körper bebte, und mich dünkte es, als ob es von verhaltenen Thränen käme. Da wurde es mir ganz wirr im Kopf. Alles, was ich so lange an Liebe und Leidenschaft still mit mir herumgetragen hatte, rebellierte mit einem Mal gegen meine Schüchternheit, und nachdem ich ein kurzes, aber inbrünstiges Stossgebet zum lieben Herrgott geschickt, dass er ja in den nächsten Minuten nicht den Mond aufgehen lassen soll, liess ich mein Laternchen fallen, umschlang sie mit beiden Armen und küsste sie ohne Aufhören wohl unzähligemal hintereinander.
Anfänglich liess sie sich das ohne Widerstreben gefallen, und ich glaubte sogar den Gegendruck ihrer Lippen zu verspüren. Plötzlich aber stiess sie einen kleinen Schrei aus, und ihre schwachen Händchen gegen meine Schulter stemmend, versuchte sie mich fortzuschieben.
Später hat sie mir gestanden, dass ich sie so leidenschaftlich umfasst, dass ihr in der Rückengegend ein Korsettstäbchen zerbrochen wäre, was sie arg geschmerzt hätte. Damals aber, als ich dies noch nicht wusste, weckte ihre Gegenwehr meine ganze Schüchternheit wieder auf.
Ich war über die begangene Keckheit auf den Tod erschrocken und wäre am liebsten in den Erdboden versunken. Da sich dieser aber trotz seiner Weichheit dazu nicht hergeben wollte, bückte ich mich wenigstens, um mein Laternchen aufzuheben und dann spurlos zu verschwinden.
So am Boden kauernd und mit den Händen umhertastend, bat ich in kläglichem Tone um Entschuldigung und behauptete, dass ich nun wohl wüsste, dass ich vorhin ganz von Sinnen gewesen wäre. Am Ende titulierte ich sie gar ›gnädiges Fräulein‹, was ich sonst noch nie gethan hatte, wohl in der instinktiven Absicht, ihr durch diese Anrede nun einen verdoppelten Respekt zu bezeugen.
Da hörte ich sie mit einem Mal lachen, so hell und doch so leise, als ob ein Vöglein im Röhricht gezwitschert hätte.
›Spricht man so mit einem Mädchen, das man vor einer Minute noch geküsst hat, Herr Kaplan?‹
Und ehe ich mich noch ganz aufrichten konnte, fühlte ich ihre Arme um meinen Nacken, und zweimal küsste sie mich auf den Mund. Beim ersten Kuss empfand ich nicht viel mehr als Schrecken und Staunen, wie Moses, als ihm der Herr im Dornbusch erschien. Beim zweiten aber wusste ich schon, dass mir damit eine Gnade zu teil würde, die nur einmal vorkommt im Leben, und ich liess das Laternchen schlafen. Wir fanden die Wege auch im Dunkeln.
Als wir endlich in das Zimmer zurückgingen, schleifte ich einen langen Stock Rohr hinter mir her, und mit solcher Begeisterung, wie wir damals Spitzen schnitten, hat es seitdem wohl kein dritter mehr gethan.
Die Gute! Sie wurde bald meine Frau. Als ihr Vater starb, kehrte ich als Pfarrer in diese Gemeinde zurück, und über zwanzig Jahre haben wir Lust und Leid miteinander geteilt … Nun wissen Sie, warum ich noch heute des Sonntags Cigaretten aus Rohrspitzen rauche. Es ist zu ihrem Gedächtnis, zum Gedächtnis an unseren ersten Liebestag. Dreissig Jahre habe ich es gehalten, und gedenke es auch weiter so zu halten, bis mich der Allmächtige – hier lüftete er demütig sein Käppchen – zu sich ruft und mich wieder mit ihr vereint.«
Während seiner letzten Worte hatte sich die Thüre geöffnet und ein junges, vielleicht neunzehnjähriges Mädchen war auf der Schwelle erschienen.
Über das Gesicht des Kaplans, der bisher nachsinnend vor sich hingesehen hatte, glitt ein schelmisches Lächeln.
»Die jungen Vögel bauen sich Nester, wenn ihre Zeit kommt, auch ohne dass sie von ihren Altvorderen gehört hätten, wie man das macht. Von heute ab werde ich auch aus Rohrspitzen rauchen, Herr Pastor, und gebe es Gott, dass es bei mir zu demselben Glücke führt, wie bei Ihnen!«
Und mit einem kräftigen Rucke brach er einer Regiecigarette das Mundstück ab, und aus der Brusttasche eine sorgfältig in Papier eingeschlagene Rohrspitze hervorholend, zündete er sie sich darin an.
»Wie meinen Sie das?« fragte der alte Herr zerstreut.
Er war in Erinnerungen verloren. Auch wenn es heller gewesen wäre, hätte er es kaum bemerkt, dass seine Tochter, die ihn zum Nachtmahl rufen wollte, beim Anblick dieser Rohrspitze ganz purpurrot geworden war und dann aus dem Schatten herüber dem jungen, blondbärtigen Kaplan vorsichtig mit dem Zeigefinger drohte …
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