Elisabeth Dauthendey
Die Tauben von San Marco
Venedig.
Wer vergisst sie je, der sie einmal schaute.
Diese einzig Geartete unter allen Städten der Erde.
Der Klang ihres Namens ist wie ein bebender Glockenton aus weiten, dunklen Fernen.
Dieser Klang geht mit uns durch die seltsam engen Gassen. Schaukelt auf den müden Wellen der blauschwarzen Wasserwege. Steht wie ein versteinertes Echo über den finsteren, drohenden Herrlichkeiten der einsamen Paläste
Venedig –
Die dich zum erstenmal schauen, gleiten wie Schlafwandelnde durch den Traum deiner farbenglühenden Stille. Ihre Seelen sind wie weit offene Schalen, bis zum Rande gefüllt von dem Rausche deiner flüsternden Geheimnisse, die zwischen deinen nachtschwarzen Wassern und der seidenweichen Bläue deiner Höhe hängen.
So gleitet Elena durch die Tage und Nächte Venedigs.
Kühl wie der junge Morgen, vom herben Dufte der ersten Reise umwebt, steht sie verwirrt wie ein scheuer Vogel an der Schwelle dieser berauschenden Offenbarungen, deren lockende Stimmen an die Verborgenheiten ihres eigenen Wesens dringen.
Vom Leben schon berührt, doch noch nicht zu ihm erwacht, lauscht sie in sich hinein und bleibt ohne Antwort auf die drängenden Fragen.
Und die antwortlose Leere ihrer Seele öffnet sich in schrankenloser Weite der berauschenden Fülle umher, die sie mit unerhörten Herrlichkeiten schier qualvoll überstürzt.
Wie war es doch –
War es ein Tag? Ein Traum –
So weit weg liegt es, was sie doch so tief bewegte, seit sie den Fuß an das seltsam unwirkliche Gestade dieser Stadt setzte, die ohne Schall und Laut in die Melancholie atemloser Zeitlosigkeit eingebettet scheint.
Alle Erinnerungen ruhen. In dieser klanglosen Stille versinken sie wie in seidene Schleier.
Nur der Augenblick lebt.
Und jeder Augenblick ist ein neues Schauen und Ergriffensein, eine neue Entzückung und Aufgelöstheit in die fremde Seltsamkeit umher.
Wie ein Zauber liegt die Stille über den dunkeln Wasserwegen, die wie finstere Runen lang abgelebter Schicksale im leisen Flimmer des silbernen Südlichtes träge hinfluten, spinnt zwischen den Kuppeln der Dome und den ragenden Palästen und liegt wie ein weicher Teppich über den engen Gassen hingebreitet.
Der schwirrende Flug der unzähligen Tauben von San Marco ist der einzige Ton, der diese Stadt bewegt, der aus ihr kommt und ihr gehört.
Wenn es vom Torre d'Orologio Mittag schlägt –
Das ist die Stunde, da die Scharen der Fremden sich auf der Piazza sammeln, um dem Fluge der Tauben zu lauschen, der gleichsam eine Erlösung aus der geisterhaft starren Stille ringsum zu bringen scheint.
Elena steht mitten unter ihnen. Auch sie hat die Hände voll Brosamen und streut sie dem lustgirrenden Gevögel achtlos hin.
Achtlos, wie im Traum.
Denn schlafwandelnd geht sie durch die Tage.
Alle Wege zu sich selbst sind überladen von all dem Neuen und Gewaltigen, das über sie kam. Alle Brücken zur Vergangenheit aufgehoben. Zu jäh war der Schritt aus der Leere ihrer unbewegten Jugend zu den sich überstürzenden Ereignissen der letzten Wochen und Tage.
In kurzen Wochen ist sie Braut und Weib geworden.
Kaum aber war sie am bräutlichen Kusse zu dem leisen Erstaunen erwacht, das ihre schlafende Seele fast mit Schrecken erfüllte, entriss ihr der rauhe Wille des tobenden Krieges den Verlobten. Und wenige Wochen darauf ward sie sein Weib.
Seine eilige Rückkehr aus den von Blut und Grausen umtobten Schlachtfeldern, um dieser einen Stunde willen –
Die grausame Eile in allem Gebaren zu dieser Stunde hin, die, sonst von der langen und heißen Andacht der Erwartung umweht, zum Altare der Jungfräulichkeit kommt, all diese Eile und Überstürzung ließ in der Erinnerung nichts von jener heiligen Feierlichkeit zurück, die sonst über ein ganzes Leben hin das unverwischbare Leuchten seliger Erfüllungen behält.
Die Welle nahm sie und warf sie an den Strand zurück.
Die Tiefe des Meeres erkannte sie nicht.
Und so, im Letzten ihres Wesens verwirrt, stürzte sie dann in die neue Wirrnis dieser seltsamen verzauberten Stadt.
Behütet nur noch von den müden Händen des Großvaters, dem einzigen, an den sie noch mit den Banden des Blutes gebunden war.
Vater und Mutter kannte sie nicht.
Keiner Mutter Hand hatte an ihrer Seele gebaut. Keiner Mutter Stimme ihr die Wege des Lebens gedeutet. So wandelte sie vereinsamt durch die tausend Wunder Venedigs.
Der müde Greis ruhte aus an der Sicherheit, das geliebte Kind nun im Schutze ihres Weibtums zu wissen, und genoss mit dem friedlichen Lächeln des Alters den letzten, zarten Widerhall fernster leuchtender Erinnerungen, die seine Seele noch an das verglimmende Licht des Lebens banden.
Venetia, du ewig Fremdartige, dich nie Enthüllende, nun starrt die Seele dieses Kind-Weibes in die furchtbare Unendlichkeit deiner Tod atmenden Geheimnisse.
Geheimnisse aus tausend Zonen und Zeiten, die in dir wie in einer Urne der Ewigkeit eingesenkt sind.
Wo ist da Anfang, wo Ende.
Umhangen mit dem unverwelklichen Kranze aller Völker Künste, beladen mit aller Zeiten Prächte, umweht vom Odem fernster Vergangenheiten, entströmt dir unter dem sanften Schleier deiner trügerischen Stille der brünstig lodernde Rausch, der aus allen Schauern der Liebe, des Todes und des Hasses, aus allen Wonnen und Qualen und Seligkeiten langer Jahrhunderte gemischt, den süßschweren Duft der Verwesung atmet, der wie tödliches Gift über allzu junges Leben geht. –
Elenas Seele öffnet sich weit dem einspinnenden Taumel dieser zeitenschweren Pracht.
Ihre Sinne lauschen und greifen. Bis zum Rande voll stehen alle goldnen Schalen ihrer Lust und ihrer Träume.
Schier schmerzhaft dünkt sie, dies alles zu tragen.
Da alle Herrlichkeit wie eine Last auf sie fällt und keines Kundigen Hände ihr sanft die Millionen Fäden entwirren, die sich hier zu einem gordischen Knoten ineinander verwurzelter Erkenntnisse verwildert haben.
Mit fiebernden Augen und fliegenden Pulsen liest sie die dunkle Geschichte dieser unheimlichsten aller Städte.
Und fortan schleicht das Grauen neben ihr durch die kühlen Gassen und engen Winkel. Über dem dunkeln Gewässer klingt ein fernes Seufzen zu ihr. Und aus der schweren Pracht der ragenden Paläste flüstern die finstern Stimmen ihrer begrabenen Geheimnisse.
Nur vor dem Wundergebilde des San Marco wird ihre Seele wieder hell und jung.
Wie aus allen Märchen der Erde zusammengewachsen, gleißt und funkelt und strahlt und leuchtet dieser, von langen vorzeiten überreich beladene, von allen Zeitstilen buntgefärbte Bau, der, wie zur Unwirklichkeit verzaubert, seltsam und wie verwunschen da mitten in die grelle Gegenwart hineinblüht.
Alles Junge in ihr wird hier zum Märchen.
Ihr Leben zum tieftönenden Liede.
Und ihrer Seele Flügel werden schwer von der süßen Last der Träume und Sehnsüchte, die aus den mystischen Dämmerungen dieses weltentrückten Tempels mit weichen Fittichen aufflattern und sie umkreisen.
Ganz leicht aber und froh wird es ihr erst dann, wenn sie dem schwirrenden Fluge der Tauben lauscht, die um die Mittagsstunde über die Piazza rauschen.
Diese unendliche Schar leuchtender Schwingen. Zwischen dem seidenweichen, hochgespannten Logen der glühenden Bläue des Südlichts und dem bunten Marmorteppich der weiten Piazza bleibt ein Bild ewig unvergessen, der es in sich nahm.
Silberweiß im Lichte schimmernd, im zärtlichen Mattgrau der köstlichen Perlen, mit rostroten Brüsten und schillernden Pfauenhälsen schwirrt es aus von den Dächern umher und fällt mit dem schweren Ton aufrauschender Seide zur Erde nieder. Kosend und schnäbelnd umfliegen sie die schönen Frauen, die mit den weißen, schlanken Händen, zwischen den roten, weichen Lippen die lockenden Gaben ihnen zureichen, sich selbst zu süßer Lust, dem Schauenden zu ewig wechselndem Bilde, an dem das schönheitsuchende Auge nimmer müde wird. –
Elena findet einige Lieblinge unter der schwirrenden Schar. Sie folgen ihr in einen stillen Winkel abseits des großen Platzes, wo das Drängen der Menge ihr diese leise Freude stört.
So steht sie, vom Sonnenglanze Venedigs umloht, ein Bild der Unschuld und Schönheit, an dem kein Auge vorübergleitet, ohne sich sein selig Teil mit wegzunehmen.
Hoch und geschmeidig wachsen die blühenden Linien des jungfräulichen Körpers zur Krone des Hauptes auf, seidenweich sprüht und leuchtet im funkelnden Südlicht die rotgoldene Fülle des Haares über dem edlen Schnitt des alabasterweißen Antlitzes, das durch das tiefe, glühende Blau der Augen wie von einer seltsam süßen Bestrahlung überschimmert ist.
Mit vollkommner Schöne umhüllt dieser wundervolle Frauenleib die schlafwandelnde, vom heißen Lebensodem noch ungeweckte Seele, die, von der himmelsseligen und höllentiefen Macht der eigenen Schönheit noch ohne jede Ahnung, an abgrundtiefen Fährlichkeiten sanft und versonnen vorübergleitet. –
– Per Dio – welch ein Götterweib – sagte eine tiefe Männerstimme.
– Und mit welchem Blick sie uns anschaut –
– Unschuld und Schönheit beisammen – unerhört –
– Werden nicht lange beisammenbleiben –
Schritte und Stimmen verhallen am Wege.
Die fremden Worte hatten Elena nur gestreift. Sie verstand sie nicht.
Aber die Stimme, die wie Musik über sie hinging.
Und die Blicke, die wie Sonnen brannten.
Von diesem Flüchtigen und Ungreifbaren ging es wie ein fremdes, qualvoll-seliges Erschauern über sie hin.
Seltsam bewegt stieg sie die Stufen zur Gondel hinab, mit der sie täglich ihre Rundfahrt machte.
Und plötzlich sah sie, dass auch der Gondoliere diese Augen hatte. Augen, die wie Sonnen brannten, deren Blicke, wie hinter einem dunklen Vorhang sammetweicher Violen tief verborgen, ohne alle Worte eine Welt von Dingen zu sagen wissen.
Und von heute an sah sie diese Augen überall. Aus jedem Mannesantlitz dieser fremdartigen Rasse blickten sie diese seltsamen Augen an, redende, singende, fragende Augen, die voll schwermütiger Lockung und schwüler Verheißungen waren. –
Sie stieg in die Gondel.
Das Boot glitt unhörbar wie auf weichen Teppichen über die dunkeln Wasser, nur ab und zu ein gurgelnder Laut der stoßenden Ruder und der melodische Ruf von Boot zu Boot.
So zwischen dem blauschwarzen Samt des gleitenden Gewässers und dem goldblauen Seidenglanze des hoch gespannten Himmelsbogens nahm sie mit immer neuem Erstaunen die prunkvolle Pracht dieser traumverlorenen Stadt in ihre Seele auf, die hinter dem Todesschweigen ihres Vordergrundes von einem Chaos sinnverwirrender Stimmen erbebte, wie ein gewaltiges Saitenspiel, das, von der wilden Hand der Leidenschaft bis in seine letzten Schwingungen aufgewühlt, nicht mehr zur Ruhe kommen kann.
Und ihre junge, unerwachte Seele streifte zwischen Traum und Tag die fernen Ufer des Lebens, von denen es wie ein strömender Duft süßer, berauschender und zugleich schwerer, banger Geheimnisse zu ihr herüberwehte.
Es war alles so unwirklich.
Und sie so ganz nur auf sich selbst gestellt.
Der alte Ahne lebte sich in leiser Verklärung zu dem Glanz seiner Erinnerungen zurück. Sein Blick nahm das Bild des Kindes neben sich kaum mehr auf. Er wusste es geborgen in der deckenden Hülle des Mannesnamens, die er ihr in der Bangigkeit seiner schwindenden Stunden noch eilig umgebreitet hatte, und seine sterbende Seele war, von Gegenwart und Zukunft verlassen, nur noch ein willenloses Spiel der tönenden Wellen seliger Vergangenheiten. –
Elena griff nach dem Brief, den sie unerbrochen noch in der Tasche trug.
Er war von ihrem Manne.
Die Schriftzüge sagten ihr nichts. Sie waren ihr noch nicht zu jenem feinen Elixier geworden, das wie ein Taumeltrank über das Herz rinnt, wenn dieses zarte Bildwerk der Hand in tiefstem Erkennen plötzlich wie durch einen magnetischen Strom die Blutwärme des Geliebten in die eignen Adern wirft.
Was wusste sie von ihm?
So gut wie nichts.
Die Eile und der Drang der wirren Zustände, die sie zusammengaben, hatten ihr sein Wesen zu keinem festen Bilde werden lassen.
Fremd schauten sie diese Zeilen an.
Sie sprachen von Liebe und Sehnsucht, ohne ein Echo in ihrem Wesen zu wecken.
Auch ihre Ehe war ihr ein Unwirkliches.
Und die starke Hand fehlte, die das Spielzeug ihrer Träume zerbrach und sie mit hartem Willen zum Leben hin zwang, das auf der Schwelle stand und auf sie wartete.
So schwebte sie wie eine Nachtwandelnde über unerkannten Tiefen. Wehe, wenn ein jäher Ruf sie weckte, ehe die linde Stimme der Liebe sie zur Sicherheit ihres Weges führte.
Gedankenlos zerriss Elena den Brief in viele kleine Stücke und streute sie über den Rand der Gondel.
Sie fühlte mehr, als dass sie wusste, welche Seele hinter diesen scheinbar heißen Worten stand, die gleichsam das Gegebene wieder in sich zurücknahmen, da ihnen die sprühende Glut fehlte, die alle Fernen überwindet, alle Worte entzündet und jeden Widerstand zerbricht. –
Sah sie es heute zum erstenmal, dass die Blicke des jungen Gondoliere mit verzehrendem Strahl zu ihr hinglimmten?
Verwirrt stieg sie aus und vergaß, ihm das gewohnte Geldstück zu geben.
Zwischen diesem Blick und jener dunklen Stimme kam etwas zu ihr heran, das seltsame fremde Weiten in ihr auftat. –
So mit neuen Träumen beladen, stand sie am nächsten Tage unter ihren Tauben im stillsten Winkel der Piazza. Ihr Liebling unter ihnen, die mit dem pfauenblauen Halsringe und dem perlmutterschimmernden Gefieder, saß auf ihrer ausgestreckten Hand und nahm ihr sanft und zärtlich das lockende Korn von den schönen Lippen, welche die hauchrote Farbe hatten, wie sie aus dem Innern seltener Muscheln schimmert.
– Taube unter den Tauben – sagte da die dunkle Stimme neben ihr, und der Glutstrahl brennender Augen loderte über sie hin.
So jäh und plötzlich und erschreckend nahe geschah das, dass ihr die Arme schlaff zur Seite fielen und das Blut ihr wie ein Sturm durch die Adern stürzte.
Dann wurde sie weiß wie Marmor, und das leuchtende Blau der Augen hob sich mit scheuer, keuscher Frage zu dem Antlitz des Mannes hin.
Der aber starrte in tiefster Verzücktheit verloren in dieses Meer von Reinheit, das diesem Blick entströmte.
– Du süße Taube, göttliche Unschuld du – sagte er und nahm ihre schöne Hand zart und behutsam zu seinen heißen Lippen.
Ein zorniges Erstaunen stieg in Elenas Augen auf. Unschuld – was meinte er damit – war das nicht so, als ob er sich wundern würde, dass sie atme.
Der Mann verstand auch diese Regung ihrer unberührten Seele und fühlte damit den Becher seines Erlebens von einer neuen, feinsten Entzückung überströmen.
Elena wendete sich von ihm ab und ging langsam, von seltsamer Erregung verwirrt, der Kathedrale zu.
Dort fiel sie in schwerer Ermattung auf eine der Bänke im Halbdunkel des Seitenschiffes.
Hier wurde sie ruhiger.
Die bizarre Wunderwelt dieses Tempels fesselte sie immer wieder. Aus dem Wirrwarr tausendfacher Kreuzungen geschichtlicher Elemente, die aus der Weite undenklicher Zeiten hier geheimnisvoll zu dieser traumhaft köstlichen Herrlichkeit verschmolzen, war eine ganz sonderliche, aus den Urtönen verschiedenster Völkerzonen zusammenquellende Melodie erblüht, die den Rausch fremder, ferner, lockender Gestade auf ihren Wellen trug.
In diesem von Licht und Dunkel, Linien und Farben, vom starren Glanz des Goldes und den Blitzen leuchtender Juwelen schwer übersättigten Raume löste sich die angstvolle Berührung ihrer Seele mit jener fremden Welt, in welche sie sich soeben wie in eine uferlose Tiefe gleiten gefühlt, zu einem schwebenden Gleichgewicht auf, in dem eine Fremdheit sich mit der anderen band und die Unruhe ihres Blutes zu reizvollen Spiegelungen ihrer Phantasie umbog, die hier ohne Anfang und Ende zu neuen Spielen alle Wege fand.
Still und beruhigt ging sie dann hinaus.
Ihre vom Drange der Leidenschaft noch unbeschwerten Fühlungen ließen sie ahnungslos an der deckenden Säule vorübergehen, hinter welcher jener Fremdling aus sicherem Verstecke die wechselnde Bewegung ihrer von ihm berührten Seele in bebender Ekstase belauscht hatte. –
Von nun an aber begegnete ihr der Fremde überall.
Täglich, wo sie auch ihre Wege nahm, an einer Biegung der Straße, auf einer Bank in den Gärten, in den Kirchen, an den Ufern des Lido, auf ihren Gondelfahrten stand er plötzlich vor ihr, fühlte sie seinen durchdringenden Blick auf sich gerichtet.
Da kam ein seltsames Fieber über sie.
Die weite, schmerzhafte Leere in ihr füllte sich jäh mit einem jagenden Sturm gänzlich unbekannter Empfindungen, die wie stürzende Frühlingsbäche von allen Seiten die Räume ihrer Seele überfluteten.
Alles scheinbar Feste und für immer Dauernde ihrer inneren Erfahrungen brach zusammen, eine Flut wilder Möglichkeiten, schmerzhaften Verlangens entwurzelte sie bis zur letzten Faser ihres Wesens, dessen keusche Stille wie ein verängsteter Vogel zwischen diesem Chaos hin und her flatterte.
Und all diese Zerstörung kam von jenen Blicken.
Sie sah und wusste kaum mehr von dem Manne als diese Blicke. Dass er groß und herrisch von Gestalt war und die tiefe, südländische Dunkelheit, die ihm schön auf Haar und Haut lag, empfand sie nur so nebenbei. Seine Augen aber redeten, lockten, schmeichelten, flehten und zwangen.
Das allein wusste sie.
Und so ging sie wie im Traum. Fiebernd von Leben und dennoch wie tot. Gebunden an einen fremden Willen, ohne dass ein Wort zwischen ihnen sprach.
Bis er, der Weiberfahrene, wusste, dass es nur dieses Wortes noch bedurfte zur letzten Lockung über die Schwelle ihres zerfallenden Eigenlebens – bis er das wusste, ließ er nur seine Blicke zu ihr gehen.
Und als die schon fast Besiegte noch mit den letzten leisen Widerständen ihrer reinen Besinnung stritt und haderte, ließ er endlich die Melodie seiner Stimme über sie hingleiten.
Und der purpurne Sammet dieser Stimme hüllte sie von Kopf bis zu Füßen ein, und die Rhythmen ihres Blutes glitten auf den tönenden Wellen dieser Stimme zu den blühenden Gefilden einer köstlich-süßen Vergessenheit, in der sie sich, aus sich selbst aufgelöst, ein gänzlich Neues und Anderes werden fühlte. –
Der aufgewühlte Sturm in ihr wurde nun zu einem sanften Lauschen. Ein Lauschen auf den Chor der Töne, die plötzlich sie umrauschten. So laut war das Leben, von solch brausendem Reichtum erfüllt.
Nun endlich sah, fühlte und hörte sie es.
Diese eine dunkle Stimme, die in allen Farben des Lebens funkelte und von allen Melodien seiner Tiefe und Unergründlichkeit durchzittert war, diese Stimme wurde ihr die goldne Brücke zu den bebenden Geheimnissen, von denen sie sich so lange umstrickt gefühlt, ohne je den roten Faden in die Hand zu finden, der aus dem verwirrenden Labyrinth seiner verschlungenen Wege zu der mystischen Schwelle seiner heimlichen Tempel führt.
Und das sanfte Lauschen in ihr tastete dunkel und unsicher zu dem letzten Willen des Lebens hin. –
Es war kein Widerstand mehr in ihr.
Das tastende Lauschen in ihr zog sie sanft der Stimme nach, die sie zu dem Willen des Lebens führte.
Sie wandelten zusammen in den üppig blühenden Gärten. Wandelten durch die schwermütigen Dämmerungen der Kirchen. Schauten den Glanz der leuchtenden Pracht, mit der durch die Jahrhunderte her eine stolze Künstlerschaft diese einzige Stadt erfüllt hatte.
Ließen ihre Wünsche und Sehnsucht in die unermessliche Weite der Adria zu allen Fernen schweifen.
Denn auch der Mann war in einem atemlosen Lauschen befangen. Seine kundigen Hände griffen nicht roh und täppisch nach dem ihm langsam zugleitenden Weibe.
Er genoss in vollen Zügen diese ihm neue Mischung des Liebestrankes, in der die Herbheit noch unzerstörter Keusche mit dem tiefen, bebenden Drange zu allen Rätseln des Blutes sich zu einem köstlichen Rausche mengten, aus dessen Vollendung seine durstigen Lippen mit der gelassenen Geduld des echten Kenners und großen Genießers zu warten verstanden. –
Und eines späten Abends schwamm eine dunkle Gondel auf den nachtschweren Wassern.
Der matte Schimmer, der aus bunten Ampeln über die von vielen Rudern bewegten Wellen huschte, machte das Dunkel der Schatten noch düsterer, die sich tiefschwarz und scharf von den Silberbreiten des Mondes abgrenzten, welche vom schleierblauen Nachthimmel zur Erde fielen und die Silhouette der seltsamen Stadt in bizarre Profile auflöste.
Aus den schwimmenden Gondeln ergoss sich ein Strom von Tönen.
Der weiche Gesang der Mandolinen und Menschenstimmen floss mit dem Wellenspiel des Wassers, der zitternden Unruhe der Kranzgewinde und flatternden Wimpel, dem schwanken Farbengeleucht der Ampeln zu einem schwellenden Adagio der Bewegung zusammen, das mit seinen wirren Kreisungen Blut und Sinne zu einer hinreißenden Empfindung schwindelnder Glücksfülle aufglühen ließ.
Elena und der Fremde fuhren abseits des Gedränges.
Ihre Gondel war ohne Kränze und ohne Licht.
Nur innen in der von Vorhängen verdeckten Kabine brannte eine rote Ampel. Der feurige Schein floss über die samtenen Kissen der Bänke und ließ das leuchtende Haar Elenas rotgolden aufglühen.
– Tizians Frauen haben es nicht schöner – sagte die dunkle Stimme, und die bleiche, vornehme Hand zog mit einem festen Griff den haltenden Kamm aus den Haaren.
Das goldne Gewirr fiel in üppiger Fülle über die Falten seines dunklen seidenen Gewandes.
Ein erstickter Schrei des Entzückens kam aus seinem Munde. Seine Hände wühlten in den duftenden Haarfluten. Ein sieghaftes Lächeln lag auf den Lippen und überflog das schöne Antlitz mit einem Ausdruck harter Grausamkeit.
Elena sah es nicht.
Ihr herrlicher Körper ruhte in völliger Auflösung schrankenloser Hingabe an der Brust des Mannes, dessen beherrschte Kraft mit langer Geduld dieser Stunde entgegengewartet.
Und dass er so lange warten musste, ließ er sie jetzt in seinem endlichen Siege spüren, den er mit einer fast rohen Ungeduld auszukosten bereit war.
Sein erster Kuss überglühte sie mit den dunklen Wellen wild ausbrechender Leidenschaft.
Elena fühlte, dass dieser Kuss ein Symbol war, hinter dem eine Unendlichkeit blühender Geheimnisse verschlossen lag. Geheimnisse, auf welche die Leere ihrer Seele und ihres Blutes mit lauschendem Verlangen wartete. Dieser Kuss war die Schwelle zu jenem neuen und fremden Leben, das sie gleichsam als ihr allereigenstes empfand, zwischen dem und sich selbst aber sie die schwindelnde Tiefe eines Abgrundes ahnte.
– Giordano – stammelte sie und suchte sich seiner Umarmung zu entziehen. Und in diesem Laut und dieser Bewegung lag der ganze schmerzhaft selige Zwiespalt ihres unbehüteten Weibtums. –
Es war weit über Mitternacht, als Elena in ihr Heim zurückkam. Der Schlüssel zitterte in ihrer Hand, als sie die Tür öffnete.
Dass der Ahne nicht aufwachen würde, wusste sie. Aber sie fürchtete sich vor dem ersten Augenblick des Alleinseins mit sich selbst. Hinter dem strömenden Rausch ihres Blutes hörte sie wehe Stimmen raunen, die aus fernen Zeiten und fremden Landen zu kommen schienen, die eben noch die ihren waren und von denen sie sich durch eine glühende Stunde für alle Ewigkeit geschieden fühlte.
Aber noch trug jene rosenumhangene Stunde den Sieg in Händen. Die Nacht nahm ihre Geheimnisse zu ihren dunklen Gestaden, wo Traum und Sein sich zu einem neuen Wissen mischen, vor dem die Gesetze und Klarheiten des Tages sich in Demut neigen und die singenden Brunnen der letzten Wesenstiefe ihren ureigensten Ton hergeben.
Aber grausam kommt der Tag.
Der Tag mit seinen Grenzen und Sicherheiten. Mit seinem harten Ja und Nein. Mit seinem Entweder – Oder, das allem göttlich-seligen Chaos der Nacht ein jähes Ende bereitet. –
Wie täglich ging Elena zu ihrem stillen Winkel an der Piazetta, wo ihre Tauben auf sie warteten. Traumverloren lauschte sie in alle Pracht umher. Seltsamer und tiefer fühlte sie heute dieses alles. Als weite sich jede Schönheit zur Ferne einer Unendlichkeit, die ihr nicht mehr fremd, die die Wellen ihres Ursprungs aus ihrem eigenen Wesen zu nehmen schien.
Und das Rauschen und Flattern um sie her hatte heute einen andern Ton. Als trügen all diese Flügel die Last der Erinnerungen der letzten Wochen, so wehte es sie heute heiß und erdrückend von ihnen an. Hatte sie doch hier die dunkle Stimme zuerst gehört, deren blutwarmer Klang wie der Duft sammettiefer Violen ihr über die Nerven rieselte.
Und plötzlich wachten die ersten Worte dieser Stimme in ihr auf –
– Göttliche Unschuld – du –
Wie einen Riss fühlte sie die Empörung nach, die sie damals bei diesen Worten durchbebte.
Und jetzt.
Jäh und klar und herrisch überkam sie das Wissen, das allen Traum verlöscht und Wahrheit heischt.
Da wusste sie, wie ganz unrettbar sie sich verloren hatte.
Sie hörte Schritte. Junge, schnelle, federnde Schritte. Gleich würden sie wie täglich um diese Stunde neben ihr sein.
Gleich würde die dunkle Stimme sie mit kosenden Worten wie mit dem Duft purpurner Rosen überschütten.
Wie eine Säule der Erinnerung stand ihr Herz steil und schmerzhaft, und der Wellentanz ihres Blutes schäumte ihr durch die Adern.
Einen Augenblick stand sie starr und hilflos dem lodernden Brande ihrer weitwachen Leidenschaft hingegeben.
Ein Augenblick kreisenden Taumels, der sie sinnlos zu jenen Armen zwang, die ihr entgegeneilten.
Doch ein anderes stand dennoch daneben.
Das, was der Tag schuf und was die Abgründe der Nacht in seinem Licht zu neuer Wahrheit wandelte.
Nein, sie konnte nicht zu diesem Flammenmeer zurück.
Etwas, für das sie keinen Namen hatte, das sie aber als ein Heiliges empfand, das irgendwo aus den stillsten Winkeln ihrer lang umhüteten Jugendreine stark und triebhaft hervorbrach, riss sie jäh aus Traum und Taumel auf.
Eine Sekunde war es – eine Welt stürzte in ihr zusammen.
Und ehe der Fremde um die Biegung der Piazetta kam, war sie hinter den Mauern von San Marco verschwunden.
Mit jagenden Pulsen trat sie in die kühle Dämmerung der Kirche. Sie flüchtete in einen der dunklen Winkel, wo kein störender Blick sie suchen würde.
Der Raum war leer.
Am Altar las ein Priester eine stille Messe. Die vielfachen Bewegungen seines Körpers, ohne dass ein Laut ihnen Sinn und Ziel gab, hatten etwas Schattenhaftes und Wesenloses.
Elena blickte in seltsamer Ergriffenheit zu diesen stummen Gesten hin, die das Leben des Priesters gleichsam in zwei Welten schieden. Seine gotttrunkene Seele schwebte in den Fernen der Ewigkeit, indes sein Körper die Zeichen des Lebens machte, ohne zu den Lauten hinzufinden, die Raum und Zeit erst zur Melodie des Lebens lösen.
So schattenhaft und wesenlos würde fortan ihr Dasein werden. Sie würde die Gesten des Lebens machen, aber ihre Seele würde an Fernen gebannt bleiben, die niemals den Laut der Erlösung haben durften.
Abgeschieden fühlte sie sich von ihrer Vergangenheit und Zukunft zugleich, und der schmale, schwankende Steg der Gegenwart, der beide band, konnte jeden Augenblick unter ihr zusammenbrechen, wenn sich nicht eine Kraft in ihr fand, die eine neue Brücke baute von ihr zum Leben hin.
Alles Junge in ihr erschauerte. Ihre unerfahrene Jugend tastete nach allen Seiten nach einem Ausweg aus ihrer dunklen Not. –
Wird sie den ungeheuren Mut finden, mit der Fülle der Gesichte des glühenden Südens beladen, zu der kühlen Leere des Nordlichtes und der schmerzhaften Leere jenes Irrtums zurückzukehren, den sie in der qualvollen Unwissenheit ihres Blutes für die Erfüllung ihrer jungen Sehnsucht hielt?
Oder wird das lockende Schweigen der dunklen Wasser Venedigs die seligen Geheimnisse ihrer Schuld in seine lautlose Tiefe nehmen zu all den ungezählten Schicksalsschemen, die wie trunkene Träume über seinen schwarzen Wellen raunen.
Trunkene Träume, die so seltsam bannen und rufen. Und die über das allzu Junge eine tödliche Macht haben.
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